DIE HEILIGE KUH
Eine kleine indische Kulturgeschichte
Von Peter Jaeggi
Seit Jahrtausenden verehrt und buchstäblich in den Himmel gehoben: Die Kühe auf dem indischen Subkontinent waren schon immer etwas Besonderes. In den Veden, die zu
den ältesten Schriften der Menschheit gehören, wird die Kuh als Mutter des Universums gepriesen. Wer sie verehrt, wird im nächsten Leben glücklich sein. Wer sie quält oder gar tötet, den erwartet
die Hölle. Kühe waren ein Synonym für materiellen und spirituellen Reichtum.
Um Kühe gab es erbitterte Kriege. Im modernen Indien ist die Kuh ein heftig umstrittenes Politikum. Dieses Buch beleuchtet die mystische und reale Geschichte eines
Tieres, über das ein Jahrtausende alter Text sagt: «Kühe sind Treppen zum Himmel. Selbst von den Planeten werden sie verehrt. Sie erfüllen uns alle Wünsche. Nichts Grösseres gibt es als eine
Kuh.»
Erstes Buch im deutschsprachigen Raum zum Thema.
Zahlreiche Zitate aus vedischen Schriften.
15 indische Pahari-Malereien
aus der Sammlung des Museums Rietberg Zürich
Kuhminiaturen
38 Fotos.
Format 220 x 245 mm, 120 Seiten
WIE AUCH KÖNNTE ICH MEINE MUTTER TÖTEN?!
«Die Kuh ist meine Mutter. Wie auch könnte ich sie umbringen?!» – Die Frage nach dem Schlachten von Kühen ist für einen gläubigen Hindu und feurigen Verfechter ältester Traditionen vor allem eins: eine unerhörte Provokation. Wir sitzen zusammen mit Mahant Jairam Das auf dem Flachdach seines Ashrams in der Nähe der heiligen Stadt Vrindavan. Das Gespräch mit dem weissbärtigen, in orange Gewänder gekleideten Mann mit dem sanftmütigen Blick wird immer wieder unterbrochen von Anrufen auf sein «Cell phone». Mahant Jairam Das ist ein Sannyasin, ein hinduistischer Asket, dessen Kuhherde hier vergleichsweise in einem Paradies lebt. Mit ihm leben hier rund fünfzig weitere Männer, die allem Weltlichen entsagen, die den Menschen dienen und die Ärmsten speisen. Seit dreihundert Jahren gibt es diesen von Palmen und Mangobäumen umsäumten Ashram samt den Tieren, über die in den Veden steht, in den ältesten Schriften Indiens:
«Kühe sind Treppen zum Himmel.
Selbst von den Planeten werden sie verehrt.
Sie erfüllen uns alle
Wünsche.
Nichts Grösseres gibt es als eine Kuh.»
Er liesse es niemals zu, dass einem seiner 125 Tiere Gewalt angetan würde, sagt der Ashramleiter. Gewalt an der Kuh wollte auch jener indische Lokomotivführer vermeiden, der im Juni 1981 auf einer Brücke seinen Zug wegen einer Kuh so brüsk zum Bremsen brachte, dass es zur Katastrophe kam. Der Zug stürzte in die Tiefe. Mehrere hundert Menschen starben.
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KUHSAFT STATT COLA
«Hat Ihr Pepsi zu wenig Pep? Mögen Sie kein Coke?» fragte die Londoner «Times» ihre Leserschaft, als sie die neueste Errungenschaft auf dem indischen Getränkemarkt scherzhaft als Alternative präsentierte: einen Soft Drink aus Kuhurin, Kräutern und anderen Zutaten.
Die indischen Erfinder des Kuhurindrinks nennen es «Gau jal», übersetzt «Kuhwasser». Das Getränk ist eine Idee der grössten Massenorganisation der Hindunationalisten des Landes, des Nationalen Freiwilligenkorps RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh). Die RSS ist seit ihrer Gründung 1925 mehrfach verboten worden. Die umstrittene Bewegung, deren Mitglieder eine paramilitärische Ausbildung haben, wird häufig beschuldigt, Attacken gegen Andersgläubige zu organisieren, auch bezichtigt man sie der Ermordung von Christen. Die RSS gehört zu den eifrigsten Verfechterinnen uralter indischer Lehren und Traditionen. Kuhurin gibt es auch in einem Laden in Delhi zu kaufen, der von der rechtskonservativen Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata-Partei, BJP) unterstützt wird. Der Shopbetreiber preist gefilterten Kuhurin sogar gegen Krebs an.
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BAUER NATARAJAN
TÖTET EINE KUH
Ein kleines Bauerndorf in Tamil Nadu. Unter einem mächtigen Mangobaum empfängt uns der Bauer Natarajan. Hager, asketisch, mit einer würdevollen Ausstrahlung. Nach all dem, was wir nun über heilige Kühe wissen, können wir uns leicht vorstellen, wie furchtbar der sechzig Jahre alte Mann seine Tat empfindet. Zwar liegt sie bereits 35 Jahre zurück, doch der Kleinbauer aus Aalivaikal leidet noch heute darunter.
Zu jener Zeit macht sich jeden Abend eine Kuh über sein Zuckerrohrfeld her. Alles Schreien und Lärmen fruchtet nichts. Die Kuh bedient sich immer wieder. So schmiedet Natarajan zusammen mit einem Nachbarn einen Plan, der das Rindvieh für immer vertreiben soll. «Wir entschieden uns, der Kuh mit einem kräftigen Stock weh zu tun, damit sie dem Feld ein für alle Mal fern bleibt.». Sie schneiden einen Korridor ins Zuckerrohrfeld. Am nächsten Abend lauert Natarajan am Ende der Schneise dem Tier auf; als es auftaucht, jagt der Nachbar die Kuh durch den Korridor, wo Natarajan mit dem Stock wartet. «Ich schleuderte das Holz gegen den Eindringling. Es traf das Tier derart unglücklich, dass es auf der Stelle starb.»
Natarajan erzählt seine Geschichte mit grossem Ernst, so als sei sie die grosse Tragödie seines Lebens. Fast hat man das Gefühl, ein leises Zittern fahre durch seinen Körper. Anderntags machten sich die beiden Nachbarn auf, um eine neue Kuh zu kaufen, die damals etwa 500 Rupien kostete. Doch der Besitzer des getöteten Tieres wollte weder einen lebendigen Ersatz noch das Geld dafür. Im Dorf glaubte man nämlich, dass sowohl auf der neuen Kuh als auch auf dem Geld für eine umgebrachte Kuh ein Fluch laste.
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EINE BERLINERIN RETTET HEILIGE KÜHE
Irgendwie erinnert die Szenerie an die Bilder aus einem Kriegslazarett. Hier liegt ein Kalb mit verbranntem Rücken, dort eines mit einem amputierten Bein, einem anderen fehlt ein Ohr, wieder ein anderes ist blind. Über 350 Kälber, Kühe und Stiere liegen, stehen und leiden dicht beieinander. Man kann sich kaum bewegen auf dem Grundstück von Friederike Irina Brüning alias Sudevi. Su bedeutet soviel wie gut oder schön, Devi heisst Göttin. «Es sind Tiere, die von Hunden angegriffen worden sind, krank und alt sind, und solche, die zu wenig Milch geben oder von Autos angefahren wurden», sagt Friederike Brüning.
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DES BISCHOFS HEILIGE KÜHE
Der Ort Vrindavan hat unter gläubigen Hindus eine ähnliche Bedeutung wie Bethlehem für Christen. Einer, der sich von der Mystik, aber auch vom aktuellen Leben der Stadt mit ihren unzähligen Tempeln und Tempelchen magisch angezogen fühlt, ist der Schweizer Richard Bischof. Für ihn sind diese frühen, kalten Morgenstunden die erfüllendsten. Eingehüllt in eine warme Decke, versunken im meditativen Gebet, eine rosenkranzartige Kette in der Hand, geht er über das Gelände, auf dem derzeit 230 Tiere leben. Kurz nach Sonnenaufgang frönt der Maschineningenieur aus Basel seiner liebsten Beschäftigung. Mit sanften Bürstenstrichen verabreicht er «seinen» Kühen wohltuende Streicheleinheiten. Am Hals scheint die Massage die grösste Wirkung hervorzurufen. Einige der Tiere verdrehen dabei ihre Augen, andere schubsen ihn, können es offenbar kaum erwarten, bis sie dran sind.
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Pahari-Malerei aus der Sammlung Muesum Rietberg Zürich ©
HYMNEN AN DIE KUH
«Möge die Kuh in unser Haus kommen und uns beglücken.
Möge sie glücklich in unserem Stall sein
und den Raum mit ihrer wunderbaren Stimme erfüllen.
Möge sie uns am frühen Morgen ihre Milch geben
zur Verehrung des Allmächtigen»
«Kühe können kein Unheil bringen,
niemand kann sie stehlen, kein Feind kann ihr etwas anhaben.
Mit der Hilfe der Kuh kann man die Götter verehren
und andern Menschen Gutes tun.
Möge sie für immer bei uns bleiben.»
«Oh Kuh, mach kranke Menschen gesund und hässliche schön.
Schenke mit deiner Glück verheissenden Stimme auch unserem Haus Glück.»
«Oh Kuh, mögest du viele Kälber gebären,
mögest du genügend Futter bekommen und reines Wasser vom See.
Mögest du nie Opfer eines Bösewichtes werden
und möge dich Rudra mit seiner Waffe stets beschützen.»
Rigveda
GANDHIS KÜHE – DIE UNFRIEDLICHE HEILIGSPRECHUNG
Zwar war die Kuh durch all die Jahrtausende ein hoch verehrtes Lebewesen. Erstaunlicherweise aber geschah die flächendeckende und tief in die Hinduseele eingegrabene «Heiligsprechung» erst in der Neuzeit mit Mahatma Gandhi (1869–1948). Der «Vater der indischen Nation» gilt als eigentlicher Erneuerer der Ahimsa-Philosophie. Sie schloss für ihn nicht nur physische, sondern auch geistige Gewalt aus. Gandhis neue Ethik des politischen Widerstandes, des gewaltlosen Kampfes gegen die britische Kolonialmacht, trug entscheidend zur Unabhängigkeit bei. Und die Kuh war mit dabei. Gandhi sah in der Kuhverehrung einen Akt der Demut vor der ganzen Natur. Er pries die Kuh als ein «Gedicht der Frömmigkeit».
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KUHSAFT STATT COLA
«Hat Ihr Pepsi zu wenig Pep? Mögen Sie kein Coke?» fragte die Londoner «Times» ihre Leserschaft, als sie die neueste Errungenschaft auf dem indischen Getränkemarkt scherzhaft als Alternative präsentierte: einen Soft Drink aus Kuhurin, Kräutern und anderen Zutaten.
Die indischen Erfinder des Kuhurindrinks nennen es «Gau jal», übersetzt «Kuhwasser». Das Getränk ist eine Idee der grössten Massenorganisation der Hindunationalisten des Landes, des Nationalen Freiwilligenkorps RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh). Die RSS ist seit ihrer Gründung 1925 mehrfach verboten worden. Die umstrittene Bewegung, deren Mitglieder eine paramilitärische Ausbildung haben, wird häufig beschuldigt, Attacken gegen Andersgläubige zu organisieren, auch bezichtigt man sie der Ermordung von Christen. Die RSS gehört zu den eifrigsten Verfechterinnen uralter indischer Lehren und Traditionen. Kuhurin gibt es auch in einem Laden in Delhi zu kaufen, der von der rechtskonservativen Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata-Partei, BJP) unterstützt wird. Der Shopbetreiber preist gefilterten Kuhurin sogar gegen Krebs an.
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